A. Raft u.a. (Hrsg): Städte aus Trümmern

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Titel
Städte aus Trümmern. Katastrophenbewältigung zwischen Antike und Moderne


Herausgeber
Ranft, Andreas; Stephan Selzer
Erschienen
Göttingen 2004: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Gerrit Jasper Schenk, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Dieser Band entstand als Resultat der Sektion «Städte aus Trümmern» des deutschen Historikertages in Halle 2002. Sein Titel ist Programm: Nicht die Zerstörung von Städten durch Katastrophen steht im Mittelpunkt der Analyse, sondern die Reaktionen auf die Katastrophe – von der unmittelbaren Reaktion der Zeitgenossen über die vielfältigen Transformationen der Katastrophenerfahrung im kollektiven Gedächtnis von Gemeinschaften und Gesellschaften bis hin zu den ganz realen Folgen von und Folgerungen aus Katastrophenerfahrungen im Städtebau. Die Herausgeber skizzieren in ihrer Einleitung knapp den auf historischer Seite fast durchweg unbefriedigenden Forschungsstand und erläutern den Argumentationsverlauf der bisherigen Forschung. Angesichts der defizitären Forschungslage erscheint es angebracht, die Problemfelder zunächst nur in Fallstudien, dafür aber in vergleichender Perspektive zu erschliessen (15f.). Dazu gehört freilich ein gewisser Mut zur Lücke: Die Fallbeispiele reichen vom Rhodos der klassischen Zeit über die Zerstörung Bagdads 1258 bis zur Altstadtsanierung Halles und damit bis in die unmittelbare Gegenwart.

Burkhard Meißner untersucht den Umgang der klassischen und hellenistischen Polis Rhodos mit Katastrophen, welche die Gemeinschaft als solche bedrohten: Überschwemmungen (S. 29–32), Belagerungen (S. 32–38), Erdbeben (S. 38–42) und wirtschaftlicher Niedergang (S. 42–44). Im angedeuteten Vergleich mit den Verhältnissen in anderen griechischen Poleis (S. 44–51) wird deutlich, dass sich in Rhodos eine Art Stadtmythos einer unter allen Umständen gemeinsamen und sogar höchst erfolgreichen Katastrophenbewältigung herausbildete. Er prägte als Fundament einer regelrechten «Katastrophenkultur» (S. 44) das Selbstgefühl der Rhodier, wurde als Ausweis einer fähigen politischen Führung herausgestellt und begründete immer wieder neu den Mut zum Aufbau. Hinzu traten «Verpflichtungsnetze» (S. 52) der Poleis zur wechselseitigen Solidarität im Katastrophenfall und die Hilfemöglichkeiten der hellenistischen Monarchen, die freilich als akkumuliertes symbolisches Kapital zugleich auch eine Legitimierungsstrategie ihrer Herrschaftsansprüche bildeten.

Stephan Conermann skizziert die Geschichte der Wahrnehmungen und Umdeutungen einer Katastrophe am Beispiel der Einnahme Bagdads durch die Mongolen 1258 von den unmittelbar betroffenen Zeitgenossen bis ins 15. Jahrhundert. Besonders der damit verbundene Untergang des ‘Abba¯ sidenkalifats verlangte nach einer geschichtlichen Einordnung des Ereignisses. Sie variierte zwischen einem sozusagen heilsgeschichtlichen Argumentationsmuster, das die Mongolen als Werkzeug Allahs begriff, durch das eine längst nicht mehr an den Werten des wahren Islam orientierte Herrschaft von einer Ordnungsmacht beendet wurde, und Ibn Kaldu¯ ns dynastisch grundierter Geschichts- und Herrschaftstheorie, die den Fall Bagdads ohne transzendente Überhöhung innerhalb eines zyklisch verlaufenden Zivilisationsprozesses verortete. In jedem Fall lasse sich die Bemühung um eine «mentale Kittung des Traditionsbruches» (S. 97) nicht übersehen.

Gerhard Fouquet macht in seinem Beitrag über das Erdbeben in Basel 1356 und das Grossfeuer im hessischen Frankenberg 1476 in detaillierter Auseinandersetzung mit den Quellen deutlich, wie unterschiedlich und differenziert die Wahrnehmung und Deutung katastrophaler Ereignisse im Spätmittelalter verlief. Zwar konnte etwa die Basler Katastrophe als Indiz göttlichen Zorns gesehen werden, doch blieben viele Chronisten «mit dem Blick auf die Deutung ... beim bewusst Ungefähren» (S. 122). Sie seien oft mehr an der Wirklichkeit ihrer Geschichte als an der Geschichte der Wirklichkeit interessiert gewesen, hätten in diesem Zusammenhang durchaus auch, wie der Chronist Wigand Gerstenberg in seiner «Reportage» (S. 112) über das Grossfeuer in Frankenberg, mit der schlechten Regierung eines Territorialherren abgerechnet. Dagegen werde häufig das Bild einer Gemeinde gestellt, bei der sich mit der Bewältigung der Katastrophe innerhalb der Stadt und durch die Solidarität anderer Städte die gemeinsame Sorge um das bonum commune bewähre, die Katastrophe und die Erinnerung an sie also Gemeinschaft stifte.

Anders als bei den antiken und mittelalterlichen Fallbeispielen kann Christoph Strupp in seinem Beitrag über die Zerstörung San Franciscos im Erdbeben von 1906 nicht über Quellenarmut klagen. Doch wegen der Intentionalität vieler Quellen ist ein Vordringen zur ‘wahren’ Geschichte des Erdbebens nicht weniger schwierig (S. 165). Gleichwohl kann Strupp in seiner überzeugenden Studie zeigen, wie im Spannungsfeld unterschiedlicher politischer Parteiungen und Strukturen, wirtschaftlicher Interessen und – kaum berücksichtigter – wissenschaftlicher Erkenntnisse in pragmatischer Weise ein ungemein rascher Aufbau aus den Trümmern heraus gelang. Trotz der Erwartung einer Wiederholung der Katastrophe überwog die städtebauliche Kontinuität, erinnerungswürdig wurde der Stolz auf den Wiederaufbau.

Ganz andere mentalitäre Strukturen werden in den Beiträgen von Matthias Meinhardt über die städtebauliche Wirkungskraft des Mythos vom «Alten Dresden » und von Georg Wagner-Kyora über die Auseinandersetzungen um die Altstadtsanierungen von Halle und Leipzig nach 1990 erkennbar. Meinhardt kann zeigen, dass der populäre Mythos vom Elbflorenz zwar eine teilweise hochproblematische Konstruktion ist, aber qua identitätsstiftender Wirkungskraft zu retrospektiv- eklektizistischen Wiederaufbaubestrebungen nach den durch Weltkrieg und Sozialismus verursachten Zerstörungen und Veränderungen im Stadtbild führte. Wagner-Kyora versucht in seinem ungemein detailreichen Beitrag das Politikum Altstadtsanierung im komplexen Spannungsfeld postrevolutionärer Bürgerinitiativen, aus dem Westen importierter Verwaltungseliten, erwachender Bürgerlichkeit und wirtschaftlicher Interessen als zwar in beiden Städten unterschiedlich verlaufenden, aber raschen Lernprozess zu skizzieren. Er habe insgesamt zu einer «Bauphilosophie des moderaten Neubaus in einer bewahrten Stadtstruktur» (S. 234) geführt.

Der bereits erwähnte abschliessende Beitrag Jakubowski-Tiessens blickt in prägnanter Form auf wesentliche Argumente des Bandes zurück. Fest scheine zu stehen, dass menschliche Gemeinschaften die Bewältigung einer Katastrophe und nicht die Katastrophe um ihrer selbst willen dauerhaft erinnern (S. 286) und, so darf man ergänzen, dadurch geschichtsmächtig machen. Auch wenn man einen einheitlichen Katastrophenbegriff kaum verlangen kann, wird man abschliessend doch fragen müssen, ob die geschilderten Katastrophen tatsächlich eine sinnvolle vergleichende Perspektive eröffnen. «Städte aus Trümmern» sind wohl auch Dresden, Halle und Leipzig um die Jahrtausendwende, das zeigte besonders der Blick auf die mentalen Strukturen im Umgang mit Verfall und Restaurierung, aber eben doch ganz anders als San Francisco 1906. Dies deutlich gemacht zu haben, ist nicht das geringste Verdienst des bemerkenswerten Bandes.

Zitierweise:
Gerrit Jasper Schenk: Rezension zu: Städte aus Trümmern. Katastrophenbewältigung zwischen Antike und Moderne. Hg. von Andreas Ranft und Stephan Selzer. Mit 11 Abb., Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2004. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr. 3, 2005, S. 376-378.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr. 3, 2005, S. 376-378.

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